Im September 2022 stellten die Abgeordneten Julia Willie Hamburg und Meta Janssen-Kucz (beide Bündnis 90/Die Grünen) die kleine parlamentarische Anfrage, wie viele geschlechtsangleichende Operationen an Kindern unter zehn Jahren in Niedersachsen durchgeführt werden?
Kleine Anfragen können durch jedes Mitglied des niedersächsischen Landtages zur kurzfristigen schriftlichen Beantwortung durch die Landesregierung gestellt werden und sind Mittel der parlamentarischen Kontrolle und Information.
Zur Anfrage
Im Mai 2021 trat das Bundesgesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung in Kraft. Dieses Gesetz verbietet medizinische Behandlungen an nicht-eiwilligungsfähigen Kindern, die nur der Angleichung an ein männliches oder weibliches Normgeschlecht dienen. In Ausnahmefällen kann eine Genehmigung des Familiengerichtes nach ausführlicher Prüfung erfolgen.
Wie viele „geschlechtsangleichende“ Operationen in den letzten 5 Jahren in niedersächsischen Krankenhäusern an Kindern unter 10 Jahren durchgeführt wurden, ermittelt die kleine Anfrage. Dazu wurde die Häufigkeit spezieller Operationen an den Genitalien erfragt.
In der Tendenz zeigt sich ein leichter Rückgang der Operationen: Von 80 im Jahre 2017 zu 67 Operationen in 2020. Besonders hoch waren dabei die Konstruktionen, Plastiken und andere Operationen an der Vulva. Am höchsten waren plastische Rekonstruktion des Penis.
Einschätzung
In den Jahren 2017 bis 2020 gab es insgesamt 289 Operationen an den Genitalien von Kindern unter 10 Jahren nach den abgefragten Operationsschlüsseln. Diese Zahl ist noch immer viel zu hoch! Anhand der durchgeführten Maßnahmen ist davon auszugehen, dass bei vielen der operierten Kinder eine Variante der geschlechtlichen Entwicklung vorlag, vielleicht bekannt oder auch unentdeckt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es bei vielen dieser Operationen möglich gewesen wäre bis zu einer selbstbestimmen Entscheidung des Kindes zu warten.
Leider waren nur Zahlen bis 2020, also vor Inkrafttreten des Gesetzes, verfügbar. Wir treten dafür ein, dass diese Anfrage in den kommenden Jahren wiederholt wird, um festzustellen, ob die Zahlen nach Inkrafttreten des Gesetzes signifikant gesunken sind.
Es wurden leider nicht die Operationen aufgrund einer Hypospadie erfasst. Bei einer Hypospadie endet die Harnröhrenöffnung nicht an der Penisspitze, sondern an der Unterseite des Penisschaftes, manchmal auch im Bereich des Dammes. Sie hat nicht unbedingt etwas mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung zu tun und nur in seltenen Fällen ist eine medizinische Intervention notwendig. Es handelt sich oft um eine rein kosmetische Operation, die aufgrund binärer Vorstellungen von Geschlecht durchgeführt wird. So wird es als zentrale und wichtige Erfahrung für Jungs angesehen im Stehen pinkeln zu können. Doch in vielen Fällen ziehen diese Operationen Komplikationen im späteren Leben nach sich, z.B. Schmerzen bei der Erektion. Da diese Operationen sehr häufig durchgeführt werden und teilweise mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung einhergehen, treten wir dafür ein dass bei einer zukünftigen Anfrage auch die Häufigkeit dieser OPs mit aufgenommen wird.
Seit Jahrzehnten streiten intergeschlechtliche Selbstorganisationen für ein Ende dieser normangleichenden Operationen. Bisher wurden immer Schlupflöcher gefunden, um trotzdem zu operieren, selbst medizinische Handlungsleitlinien haben daran wenig geändert. Oft wird auf Druck von Medizinier*innen, aber auch von Eltern versucht Gesetze, Standards und Empfehlungen zu umgehen. Auch dieses Gesetz hat noch immer Schlupflöcher und erst in den kommenden Jahren wird sich zeigen, ob es die gewünschte Schutzwirkung entwickelt. Das Gesetz schützt nur Kinder mit einer Variante der geschlechtlichen Entwicklung. Was untern den Begriff fällt, ist zeitgeistabhängig und es ist ein Leichtes Kinder aus diesem Diagnosefeld herauszudefinieren. Deshalb fordern Intergeschlechtliche Menschen Landesverband Niedersachen e.V. und das Queere Netzwerk Niedersachsen eine konsequente Umsetzung, Evaluierung und Weiterentwicklung dieses Gesetzes. Darüber hinaus muss die intergeschlechtliche Selbsthilfe in Niedersachen und bundesweit institutionalisiert gefördert und medizinisches Personal umfassend geschult werden.
Hintergrund
Auch in Deutschland kommen Kinder zur Welt, deren körperliche Geschlechtsmerkmale zwischen den gängigen medizinischen Kategorien von Mädchen und Jungen liegen oder eine Mischung von beiden sind. Diese Kinder wurden oftmals medizinischen Maßnahmen unterzogen, die ein männliches oder weibliches Normgeschlecht herstellen sollten. Diese Maßnahmen waren nicht medizinisch notwendig, sondern rein kosmetisch und wurden oft an nicht-einwilligungsfähigen Kleinkindern vollzogen. Als „Heilbehandlung“ getarnt, waren sie reine Normierung und Ausdruck einer rigiden heteronormativen Sicht auf die Welt. Das Leid trugen die Kinder: Waren sie vorher gesund, mussten sie nun mit den Folgen der Eingriffe leben. Oft waren Folgeoperationen notwendig, Narben schmerzten und die sexuelle Empfindsamkeit und Orgasmusfähigkeit konnten beeinträchtigt werden. Wurden „feminisierende“ Operationen durchgeführt, aber die geschlechtliche Identität entwickelte sich nicht weiblich, waren Tatsachen geschaffen, die nicht rückgängig zu machen waren. Kurzum: Diese Eingriffe waren schwere Menschenrechtsverletzungen. Sie griffen massiv in das Recht auf körperliche Unversehrtheit, sowie auf das Recht auf sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung ein. Selbstorganisationen intergeschlechtlicher Menschen wehren sich seit Jahrzehnten massiv gegen diese medizinischen Maßnahmen.
Im Mai 2022 trat deshalb das „Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ in Kraft: „Im Wesentlichen begrenzt das neue Gesetz die Personensorge von Eltern intergeschlechtlich geborener Kinder, in dem es klar formuliert, dass die Personensorge nicht das Recht umfasst in die Behandlung nicht einwilligungsfähiger Kinder mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung einzuwilligen oder diese selber durchzuführen […] wenn dies allein in der Absicht erfolgt, das körperliche Erscheinungsbild des Kindes an das des männlichen oder weiblichen Geschlechts anzupassen (vgl. §1631e Abs. 1 BGB).
Die Eltern dürfen nur noch in operative Eingriffe […] einwilligen, wenn der Eingriff nicht bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden kann. Eingriffe, die nicht aufgeschoben werden können, sind medizinische Maßnahmen, die eine akute Gefahr für Leben und Gesundheit des Kindes abwenden sollen (vgl. 1631e Abs. 2 BGB). In allen anderen Fällen bedarf es für Eingriffe an den Genitalien von Kindern mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung nun der Genehmigung des Familiengerichts.“ (FAKTEN ZU INTERGESCHLECHTLICHKEIT #7).
Weitere Informationen auch in FAKTEN ZU INTERGESCHLECHTLICHKEIT #2. Alle weiteren Faktenpapiere sind hier zu finden: https://www.selbstverstaendlich-vielfalt.de/im-e‑v/