Gro­ße Anfra­ge zur „Drit­ten Opti­on in Nie­der­sach­sen“

Im Janu­ar 2021 stell­te die Land­tags­frak­ti­on von Bünd­nis 90/Die Grü­nen eine Gro­ße Anfra­ge zur Umset­zung des Urteils des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­rich­tes zur “Drit­ten Opti­on” in Regie­rung, Minis­te­ri­en und Ver­wal­tung Lan­des Nie­der­sach­sen.

Ziem­lich genau ein Jahr spä­ter wur­de die Ant­wort des Nie­der­säch­si­schen Minis­te­ri­ums für Sozia­les, Gesund­heit und Gleich­stel­lung ver­öf­fent­licht. Die gesam­te Anfra­ge mit den Ant­wor­ten ist hier zu fin­den.

Am 24.2. wird zwi­schen ca. 15.30 und 16.30 Uhr die gro­ße Anfra­ge im Land­tag dis­ku­tiert, die kom­plet­te Tages­or­dung ist hier zu fin­den. Die Ple­nar­ta­gung kann vor Ort oder im Live-Stream des Land­ta­ges ver­folgt wer­den. Spä­ter steht eine Auf­zeich­nung der Debat­te im Ple­nar TV zur Ver­fü­gung. Hier gibt es wei­te­re Infor­ma­tio­nen zum Ver­fol­gen der Debat­te.

Die Lan­des­ko­or­di­na­ti­on Inter* im QNN und Inter­ge­schlecht­li­che Men­schen Lan­des­ver­band Nie­der­sach­sen e.V. (IMLVNDS­eV) hat die Beant­wor­tung der Gro­ßen Anfra­ge im Fol­gen­den nach selbst gewähl­ten Kate­go­rien zusam­men­ge­fasst und kom­men­tiert:

Recht­li­che und gesell­schaft­li­che Aner­ken­nung

Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung (zusam­men­ge­fasst):

Die Lan­des­re­gie­rung wirkt aktiv dar­auf hin, dass bei allen Ände­run­gen von Rechts- und Ver­wal­tungs­vor­schrif­ten auch eine Prü­fung auf Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit vor­ge­nom­men wird. Das schließt die Aner­ken­nung von geschlecht­li­cher Viel­falt mit ein. Der Beant­wor­tung der ein­zel­nen Fra­gen stellt für Lan­des­re­gie­rung vor­an: „Die Auf­klä­rungs­ar­beit – ins­be­son­de­re auch zu den Unter­schie­den der Begriff­lich­kei­ten trans* und inter* — ist zum jet­zi­gen Zeit­punkt noch ein lan­ger Pro­zess. Die Lan­des­re­gie­rung ist bestrebt, eine Sen­si­bi­li­sie­rung für die­se The­men vor­an­zu­brin­gen und die gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Akzep­tanz von mehr als zwei Geschlech­tern aus­zu­bau­en. Daher ist sie kon­ti­nu­ier­lich bestrebt, in allen maß­geb­li­chen Berei­chen die unter­schied­li­chen Geschlech­ter­per­spek­ti­ven ein­zu­be­zie­hen und damit der Lebens­wirk­lich­keit einer Viel­zahl geschlecht­li­cher Iden­ti­tä­ten Rech­nung zu tra­gen.“[1] Fer­ner wird ver­deut­licht dass die Akzep­tanz geschlecht­li­cher Viel­falt und das Durch­bre­chen binä­rer Vor­stel­lun­gen von Geschlecht nicht nur durch recht­li­che Vor­schrif­ten erfolgt kann, son­dern ein inten­si­ver gesell­schaft­li­cher Pro­zess ist, den die Lan­des­re­gie­rung best­mög­lich unter­stüt­zen möch­te.

Kom­men­tar:

Wir begrü­ßen das Enga­ge­ment der Lan­des­re­gie­rung zur Auf­klä­rungs­ar­beit und Sen­si­bi­li­sie­rung. Die Lan­des­ko­or­di­na­ti­on Inter* im QNN und IMLVNDS­eV freu­en sich auf die wei­te­re Zusam­men­ar­beit.

Ver­wal­tungs­tech­ni­sche Umset­zung der Drit­ten Opti­on

Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung (zusam­men­ge­fasst):

In eini­gen Berei­chen (z.B. Pass- und Mel­de­recht) wur­den durch recht­li­che Anpas­sun­gen die Ände­run­gen des Per­so­nen­stands­rechts vor­ge­nom­men. Die Umset­zung ist nicht abge­schlos­sen, son­dern wird als kon­ti­nu­ier­li­cher Pro­zess ange­se­hen. Die Kom­ple­xi­tät der Ver­wal­tungs­struk­tu­ren ver­langt viel Geduld und auch die tech­ni­schen Umset­zun­gen von IT-Sys­te­men braucht Zeit: „Dar­über hin­aus ist der Bedarf an inter­ner — wie auch an exter­ner – Auf­klä­rungs­ar­beit im Kon­text „Inter­ge­schlecht­lich­keit“ noch sehr hoch, sodass über den Abschluss der Umset­zung kei­ne Pro­gno­se gege­ben wer­den kann.“[2]

Kom­men­tar:

Wir stim­men zu dass bei der Auf­klä­rungs­ar­beit im Kon­text Inter­ge­schlecht­lich­keit noch viel Arbeit not­wen­dig ist und ste­hen als Koope­ra­ti­ons- und Ansprechpartner*innen für Schu­lun­gen, Work­shops, etc. zur Ver­fü­gung.

Spra­che

Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung (zusam­men­ge­fasst):

„In allen Berei­chen des öffent­li­chen Diens­tes ist einer Geschlech­ter­dis­kri­mi­nie­rung durch geschlech­ter­ge­rech­te Spra­che und Dar­stel­lung aktiv ent­ge­gen­zu­wir­ken.“[3] In der schrift­li­chen und münd­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on der Ver­wal­tung wer­den zuneh­mend geschlechts­neu­tra­le For­mu­lie­run­gen ver­wen­det um auch Men­schen, die sich nicht dem männ­li­chen oder weib­li­chen Geschlecht zuord­nen, anzu­spre­chen. Die sprach­li­che Inklu­si­on jen­seits der Bina­ri­tät von männ­lich und weib­lich ist jedoch noch nicht ver­an­kert, son­dern „[f]ür die Lan­des­re­gie­rung gilt die Anwendung/Beachtung des Beschlus­ses des Lan­des­mi­nis­te­ri­ums (heu­te Lan­des­re­gie­rung) über Grund­sät­ze für die sprach­li­che Gleich­be­hand­lung von Frau­en und Män­nern in der Rechts­spra­che vom 09.07.1991 (Nds. MBl. S. 911). Die sprach­li­che Inklu­si­on wei­te­rer Geschlech­ter jen­seits der Bina­ri­tät ist hier nicht ver­an­kert.“[4]

Kom­men­tar:

Hier sehen wir drin­gen­den Nach­hol­be­darf und for­dern die ver­bind­li­che Ver­an­ke­rung einer geschlech­ter­ge­rech­ten Spra­che, die alle Geschlech­ter berück­sich­tigt, z.B. durch mög­lichst geschlechts­neu­tra­le For­mu­lie­run­gen und/oder die Ver­wen­dung des „Gen­der-Stern­chens“. Die­se Rege­lung soll­te im gesam­ten Ver­wal­tungs­han­deln, sowie der Kom­mu­ni­ka­ti­on nach innen und außen gel­ten.

Sta­tis­ti­sche Erhe­bun­gen

Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung:

„Eine Aus­sa­ge zu der Anzahl der Per­so­nen in Nie­der­sach­sen, wel­che sich bio­lo­gisch weder dem männ­li­chen noch dem weib­li­chen Geschlecht zuord­nen las­sen, lässt sich nicht ein­deu­tig tref­fen. Die wis­sen­schaft­li­chen Schät­zun­gen vari­ie­ren zwi­schen 0,02 % und 1,7 % der Bevöl­ke­rung.“[5]

Kom­men­tar:

Auf­grund der Viel­zahl unter­schied­li­cher Vari­an­ten der geschlecht­li­chen Ent­wick­lung und des häu­fig unbe­kann­ten inter­ge­schlecht­li­chen Poten­ti­als gibt es zur Fra­ge wie vie­le inter­ge­schlecht­li­che Men­schen in Nie­der­sach­sen leben nur Schät­zun­gen. Da eine Ände­rung des Geschlechts­ein­tra­ges auf­grund §45b PStG frei­wil­lig ist, lässt auch das kei­ne Rück­schlüs­se auf die Anzahl der in Nie­der­sach­sen leben­den Men­schen mit inter­ge­schlecht­li­chem Poten­ti­al zu. Zur ver­tie­fen­den Lek­tü­re emp­feh­len wir „FAK­TEN ZU INTER­GE­SCHLECHT­LICH­KEIT – Mit wel­cher Iden­ti­tät und wel­chem Per­so­nen­stands­ein­trag leben inter­ge­schlecht­li­che Men­schen?“

IMLVNDS­eV wür­de sich eine fun­dier­te Erhe­bung von Sei­ten des sta­tis­ti­schen Lan­des­am­tes wün­schen, ger­ne in Zusam­men­ar­beit mit dem Quee­ren Netz­werk Nie­der­sach­sen (QNN) und IMLVNDS­eV.

Auf­klä­rung und Bera­tung

Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung (zusam­men­ge­fasst):

Die Lan­des­re­gie­rung för­dert die Bera­tungs- und Auf­klä­rungs­ar­beit zu Inter­ge­schlecht­lich­keit über die Lan­des­ko­or­di­na­ti­on Inter*, einem Koope­ra­ti­ons­pro­jekt vom QNN und IMLVNDS­eV. Die Lan­des­ko­or­di­na­ti­on Inter* bie­tet Work­shops an, berät Orga­ni­sa­tio­nen, koor­di­niert Kam­pa­gnen und ver­netzt rele­van­te Akteu­re in Nie­der­sach­sen. IMLVNDS­eV führt Bera­tun­gen durch und koor­di­niert die inter­ge­schlecht­li­che Selbst­hil­fe in Nie­der­sach­sen. Auch der Ver­ein für sexu­el­le Eman­zi­pa­ti­on in Braun­schweig bie­tet ehren­amt­li­che Erst­be­ra­tun­gen an. Bun­des­weit ist die inter­ge­schlecht­li­che Peer­be­ra­tung für inter­ge­schlecht­li­che Men­schen und deren Ange­hö­ri­ge erreich­bar. Die bun­des­wei­te Bera­tungs­stel­le zum The­men­be­reich Inter­ge­schlecht­lich­keit von Inter­ge­schlecht­li­che Men­schen e.V. (IMEV) berät inter­ge­schlecht­li­che Per­so­nen und deren Ange­hö­ri­ge, ver­mit­telt Kon­tak­te und ist für Pres­se­an­fra­gen sowie Bera­tun­gen für ver­schie­de­ne Orga­ni­sa­tio­nen und Insti­tu­tio­nen zustän­dig.

Kom­men­tar:

In den letz­ten Mona­ten und Jah­ren hat das Inter­es­se am The­ma Inter­ge­schlecht­lich­keit enorm zuge­nom­men. Das liegt an der erhöh­ten Sicht­bar­keit des The­mas im öffent­li­chen Dis­kurs und an dem erhöh­ten Inter­es­se an quee­ren The­men gene­rell. Des­halb hal­ten wir einen Aus­bau der För­de­rung von Auf­klä­rungs- und Bera­tungs­ar­beit in Nie­der­sach­sen und bun­des­weit für drin­gend erfor­der­lich. Zudem hat das neue Kin­der- und Jugend­stär­kungs­ge­setz ein flä­chen­de­cken­des Bera­tungs­an­ge­bot für Kin­der und Jugend­li­che sowie deren Eltern oder Sor­ge­be­rech­tig­ten gesetz­lich fest­ge­schrie­ben.  Mehr Infor­ma­tio­nen dazu sind hier zu fin­den: „Fak­ten zu Inter­ge­schlecht­lich­keit #6: Inklu­siv und dif­fe­ren­ziert: Das Kin­der- und Jugend­stär­kungs-gesetz und sei­ne erwei­ter­te Geschlech­ter­per­spek­ti­ve“.

Medi­zi­ni­sches Per­so­nal

Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung:

Die S2k-Leit­li­nie „Vari­an­ten der Geschlechts­ent­wick­lung“[6] besagt, dass unter Vari­an­ten der Geschlechts­ent­wick­lung defi­ni­ti­ons­ge­mäß Dia­gno­sen zusam­men­ge­fasst wer­den, „bei denen die Geschlechts­chro­mo­so­men, das Geni­tale oder die Gona­den inkon­gru­ent sind.“[7]

Kom­men­tar:

Die S2K-Leit­li­nie emp­fiehlt u.a. den Ver­weis an die inter­ge­schlecht­li­che Peer­be­ra­tung und Selbst­hil­fe für alle Men­schen mit Vari­an­ten der geschlecht­li­chen Ent­wick­lung und Eltern inter­ge­schlecht­lich gebo­re­ner Kin­der. Lei­der ist die­se Leit­li­nie noch immer zu wenig bekannt unter medi­zi­ni­schem Per­so­nal und dar­über hin­aus nicht ver­pflich­tend. Wir for­dern die Schaf­fung ver­bind­li­cher „Stan­dards of Care“ unter Ein­be­zug inter­ge­schlecht­li­cher Per­so­nen und deren Orga­ni­sa­tio­nen. Die Auf­klä­rung und Schu­lung von medi­zi­ni­schem Per­so­nal muss drin­gend erhöht wer­den. Ins­be­son­de­re Heb­am­men und Geburtshelfer*innen sind eine wich­ti­ge Ziel­grup­pe, denn sie sind die oft die ers­ten die die Inter­ge­schlecht­lich­keit eines Kin­des fest­stel­len. Daher haben sie einen gro­ßen Ein­fluss dar­auf, wie belas­tet der gemein­sa­me Start von Eltern und Kind ggf. ist. Des­halb begrü­ßen wir sehr, dass die Lan­des­re­gie­rung im Kon­text der Aka­de­mi­sie­rung der Geburts­hil­fe die Ver­mitt­lung von Grund­wis­sen zu Inter­ge­schlecht­lich­keit bei die­ser Berufs­grup­pe anstrebt.[8] Die Lan­des­ko­or­di­na­ti­on Inter* im QNN und IMLVNDS­eV unter­stüt­zen dabei mit ihrer Fach­ex­per­ti­se. Wei­te­re Infor­ma­tio­nen spe­zi­ell für Heb­am­men und Geburtshelfer*innen sind in der Bro­schü­re „Was ist es denn?“ von IMeV und IMLVNDS­eV zu fin­den.

Schu­le

Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung (zusam­men­ge­fasst):

Die Lan­des­re­gie­rung strebt an durch die Lehr­kräf­te­fort­bil­dung das Wis­sen über Inter­ge­schlecht­lich­keit bei Lehr­per­so­nal zu erhö­hen.[9]

Kom­men­tar:

Das begrü­ßen wir aus­drück­lich, denn die Schu­le ist ein wich­ti­ger Sozia­li­sa­ti­ons­ort für Kin­der und Jugend­li­che, die dort oft einem gro­ßen Nor­mie­rungs­druck aus­ge­setzt sind. Auf­grund des gesetz­li­chen OP-Ver­bo­tes ist davon aus­zu­ge­hen, dass in den nächs­ten Jah­ren ver­mehrt offen inter­ge­schlecht­lich leben­de Kin­der und Jugend­li­che in die Schu­le kom­men. Dar­auf müs­sen die Schu­len vor­be­rei­tet sein! Die Lan­des­ko­or­di­na­ti­on Inter* und IMLVNDS­eV ste­hen für Unter­stüt­zung zur Ver­fü­gung. Das Bil­dungs- und Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­pro­jekt SCHLAU Nie­der­sach­sen ver­öf­fent­licht dem­nächst in Koope­ra­ti­on mit der Lan­des­ko­or­di­na­ti­on Inter* und der Lan­des­fach­stel­le Trans* im QNN die Bro­schü­re „Geschlecht­li­che Viel­falt im Klas­sen­zim­mer“ und kann für Work­shops ange­fragt wer­den. Wert­vol­le Infor­ma­tio­nen ent­hält auch die Publi­ka­ti­on „FAK­TEN ZU INTER­GE­SCHLECHT­LICH­KEIT Schu­le „divers“ den­ken: Anre­gun­gen und Bei­spie­le für Unter­richt und Schul­all­tag“.

Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung:

„Gleich­wohl besteht bei der Kom­mis­si­on Sport der Kul­tus­mi­nis­ter­kon­fe­renz eine Arbeits­grup­pe „Drit­tes Geschlecht und Sport­un­ter­richt“, der die Bun­des­län­der Baden-Würt­tem­berg, Bay­ern, Nie­der­sach­sen und Sach­sen-Anhalt ange­hö­ren. Die­se plant einen Fach­tag, der dazu füh­ren soll, mehr Exper­ti­se bei den Ent­schei­dungs­trä­ge­rin­nen und Ent­schei­dungs­trä­gern der Bun­des­län­der zu erzeu­gen, um gege­be­nen­falls bei Bedarf sach­ge­rech­te Ein­zel­fall­lö­sun­gen zu erzie­len.“[10]

Kom­men­tar:

Die­se Initia­ti­ve begrü­ßen wir aus­drück­lich, denn beson­ders der Sport­un­ter­richt ist ein schwie­ri­ger Ort für inter­ge­schlecht­li­che Schüler*innen: Für Umklei­de- und/oder Dusch­mög­lich­kei­ten, sowie die Bewer­tung – die im Sport­un­ter­richt in der Regel nach binä­ren Mus­tern erfolgt – müs­sen Rege­lun­gen für indi­vi­du­el­le Ein­zel­lö­sun­gen gefun­den wer­den.

Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung:

„Vor­schrif­ten wie z. B. die Arbeits­stät­ten­ver­ord­nung sind im Sin­ne der Rechts­si­cher­heit anzu­pas­sen.“[11]

Kom­men­tar:

Die­se For­de­rung der Lan­des­re­gie­rung begrü­ßen wir eben­falls aus­drück­lich, denn die Arbeits­stät­ten­ver­ord­nung gilt auch für Schu­len und schreibt nur binär getrenn­te Sani­tär­an­la­gen vor. Ob Toi­let­ten für alle ange­legt oder aus­ge­schrie­ben wer­den, liegt im Ermes­sen der Schu­le, bzw. der Arbeits­stät­te. Da ins­be­son­de­re Sani­tär­an­la­gen Orte sind an denen inter­ge­schlecht­li­che Men­schen ver­mehrt Dis­kri­mi­nie­run­gen erle­ben, wäre hier Rechts­si­cher­heit durch Anpas­sung not­wen­dig.

OP-Ver­bot

Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung:

„Die Lan­des­re­gie­rung möch­te zukünf­ti­ge Über­grif­fe ver­hin­dern und begrüßt daher die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen zum Schutz von Kin­dern mit Vari­an­ten der Geschlechts­ent­wick­lung.“[12]

Kom­men­tar:

Die­ses State­ment begrü­ßen wir aus­drück­lich. Vie­le inter­ge­schlecht­li­che Kin­der wur­den in den letz­ten Jahr­zehn­ten medi­zi­nisch nicht not­wen­di­gen Ein­grif­fen unter­zo­gen. Die­se medi­zi­ni­schen Maß­nah­men waren schwe­re Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, denn sie wider­spre­chen dem Recht auf kör­per­li­che Unver­sehrt­heit, sowie dem Recht auf geschlecht­li­cher und sexu­el­ler Selbst­be­stim­mung. Die wesent­li­che aktu­el­le Ent­wick­lung in die­sem Kon­text ist das im März 2021 ver­ab­schie­de­te „Gesetz zum Schutz von Kin­dern mit Vari­an­ten der Geschlechts­ent­wick­lung“ (§1631 e BGB). Die­ses Gesetz ver­bie­tet medi­zi­ni­sche Maß­nah­men, die nur dazu die­nen, ein kör­per­lich männ­li­ches oder weib­li­ches Norm­ge­schlecht her­zu­stel­len. Lei­der bie­tet das Gesetz noch eini­ge Schutz­lü­cken durch Umge­hungs­mög­lich­kei­ten (mehr Infos dazu sind in die­ser Pres­se­mit­tei­lung von ImeV zu fin­den). Laut Koali­ti­ons­ver­trag der Bun­des­re­gie­rung sol­len die­se aber besei­tigt wer­den. Der Schutz, den das gesetz­li­che OP-Ver­bot nun bie­tet, kommt für die Betrof­fe­nen der Ein­grif­fe aus den letz­ten Jahr­zehn­ten zu spät.

Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung:

„Eine finan­zi­el­le Ent­schä­di­gung kann die Erleb­nis­se und Ein­grif­fe in die Selbst­be­stim­mung der betrof­fe­nen Men­schen nicht rück­gän­gig machen. Eine Dis­kus­si­on zur For­de­rung eines Ent­schä­di­gungs­fonds auf nie­der­säch­si­scher Ebe­ne fin­det zum aktu­el­len Zeit­punkt nicht statt.“[13]

Kom­men­tar:

Die­se Aus­sa­ge der Lan­des­re­gie­rung bedau­ern wir sehr. Natür­lich kann erfah­re­nes Leid nicht rück­gän­gig gemacht wer­den. Doch wir for­dern eine Ent­schä­di­gung aus ande­ren Grün­den: Vie­le inter­ge­schlecht­li­chen Men­schen wur­den durch die medi­zi­nisch nicht not­wen­di­gen Ein­grif­fe an Kör­per und See­le ver­letzt. Die­se Ver­let­zun­gen führ­ten in vie­len Fäl­len zu Schwer­be­hin­de­run­gen und abge­bro­che­nen Erwerbs­le­ben mit mas­si­ven finan­zi­el­len Ein­bu­ßen. Hier sehen wir auch eine staat­li­che Ver­ant­wor­tung für das erfah­re­ne Leid, denn die Kri­tik von Selbst­or­ga­ni­sa­tio­nen an den medi­zi­ni­sche Maß­nah­men wur­de in der Ver­gan­gen­heit igno­riert. Wir for­dern, dass die medi­zi­ni­schen Maß­nah­men und deren Fol­gen als Unrecht aner­kannt und finan­zi­ell ent­schä­digt wer­den. Wir begrü­ßen daher sehr den Koali­ti­ons­ver­trag der Bun­des­re­gie­rung, wel­cher die Ein­rich­tung eines Ent­schä­di­gungs­fonds für inter* und trans *geschlecht­li­che Per­so­nen, die auf­grund frü­he­rer Gesetz­ge­bung von Kör­per­ver­let­zun­gen betrof­fen waren. Wir wün­schen uns eine kla­re Posi­tio­nie­rung der Lan­des­re­gie­rung für die­ses Vor­ha­ben.

Personenstandsgesetz/Selbstbestimmungsgesetz

Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung:

„Nach einem Urteil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts im Okto­ber 2017 (- 1 BvR 2019/16 -) und einer dar­auf fol­gen­den Ände­rung des Per­so­nen­stands­ge­set­zes wur­de neben den Geschlechts­ka­te­go­rien „männ­lich“ und „weib­lich“ die soge­nann­te Drit­te Opti­on „divers“ beim Geschlechts­ein­trag ermög­licht. Seit­her gibt es für Men­schen, die sich weder dem männ­li­chen noch dem weib­li­chen Geschlecht zuord­nen, die Mög­lich­keit, die Kate­go­rie „divers“ in das Per­so­nen­stands­re­gis­ter ein­tra­gen zu las­sen. Die Mög­lich­keit, kei­nen Geschlechts­ein­trag vor­zu­neh­men, bleibt davon unbe­rührt. Auch der Vor­na­me kann ent­spre­chend geän­dert wer­den. Vor­aus­set­zung ist jedoch ein ärzt­li­ches Attest zur Fest­stel­lung einer „Vari­an­te der Geschlechts-ent­wick­lung“ oder unter bestimm­ten Vor­aus­set­zun­gen eine Erklä­rung an Eides statt.“[14]

Kom­men­tar:

Wir leh­nen die Patho­lo­gi­sie­rung durch das ärzt­li­che Attest ab und wün­schen uns von der Lan­des­re­gie­rung die akti­ve Unter­stüt­zung des im Koali­ti­ons­ver­trag der Bun­des­re­gie­rung ver­ab­schie­de­ten Selbst­be­stim­mungs­ge­set­zes. Wir hof­fen, dass die­ses Selbst­be­stim­mungs­recht sei­nem Namen gerecht wird! Das wird es nur wenn es zukünf­tig mög­lich sein wird, dass alle Men­schen selbst­be­stimmt ihren Geschlechts­ein­trag und ihren Vor­na­men ändern kön­nen.

 

Lei­der wur­de eini­ge The­men in der Gro­ßen Anfra­ge nicht beh­anldet, sind jedoch aus unse­rer Sicht sehr wich­tig. Des­halb sol­len sie an die­ser Stel­le mit auf­ge­nom­men wer­den:

Alter

Auf­grund der Erfah­run­gen mit medi­zi­ni­schen Ein­rich­tun­gen gibt es teil­wei­se gro­ße Vor­be­hal­te gegen­über Pfle­ge­ein­rich­tun­gen. Im schlimms­ten Fall kann eine unsen­si­ble, unin­for­mier­te Betreu­ung und Pfle­ge zu Retrau­ma­ti­sie­run­gen füh­ren. Es braucht beim Pfle­ge­per­so­nal spe­zi­el­le Exper­ti­se für eine sen­si­ble Betreu­ung und Pfle­ge inter­ge­schlecht­li­cher Men­schen. Wir wün­schen uns Stan­dards zur Aus‑, Fort- und Wei­ter­bil­dung bei Pfle­ge­per­so­nal und Anbieter*innen von Pfle­ge­plät­zen. Ein­zel­ne Pro­jek­te – wie „Que­er im Alter – Öff­nung der Alten­pfle­ge­ein­rich­tun­gen für die Ziel­grup­pe LSBTIQ*“ haben bereits wich­ti­ge Ergeb­nis­se erzielt und wert­vol­le Publi­ka­tio­nen erar­bei­tet. Die­se müs­sen aber auch in den Ein­rich­tun­gen ankom­men. Die Publi­ka­ti­on „Fak­ten zu Inter­ge­schlecht­lich­keit #5: Wie kön­nen inter­ge­schlecht­li­che Men­schen in Pfle­ge­ein­rich­tun­gen gut ver­sorgt wer­den?“ bie­tet dazu wert­vol­le Infor­ma­tio­nen.

Gleich­be­hand­lung und Anti­dis­kri­mi­nie­rung

Das Nie­der­säch­si­sche Gleich­be­rech­ti­gungs­ge­setz (NGG) ist noch immer binär struk­tu­riert da es um die Gleich­be­rech­ti­gung von Män­nern und Frau­en geht. Hier wird drin­gen­der Hand­lungs­be­darf gese­hen denn inter­ge­schlecht­li­che Men­schen erfah­ren Dis­kri­mi­nie­rung auf­grund des Geschlechts und sind von einer Gleich­be­rech­ti­gung auf­grund ihres Geschlech­tes weit ent­fernt. Auch wenn immer mehr (kom­mu­na­le) Gleich­stel­lungs­be­auf­trag­te auch die Belan­ge und Bedar­fe inter* und trans*geschlechtlicher Men­schen bear­bei­ten, fehlt hier eine kla­re Rege­lung wer in den Kom­mu­nen für Fra­gen der geschlecht­li­chen Viel­falt ansprech­bar ist. Hier wün­schen wir und Klar­heit und klar defi­nier­te Ansprech­per­so­nen.

Sport

Brei­ten- und Leis­tungs­sport sind größ­ten­teils binär auf­ge­teilt in Män­ner- und Frau­en­teams, sowie Bewer­tungs­sys­te­me und Leis­tungs­ta­bel­len die in Män­ner und Frau­en unter­teilt sind. Hier wün­schen wir uns mehr Initia­ti­ve, um nicht-binä­re Kon­zep­te und Ideen für den Brei­ten- und Leis­tungs­sport zu ent­wi­ckeln und zu för­dern.

Kita

Ana­log zur Schu­le wer­den auf­grund des gesetz­li­chen OP-Ver­bo­tes auch Kitas in den fol­gen­den Jah­ren ver­mehrt von inter­ge­schlecht­li­che Kin­der besucht wer­den. Hier wün­schen wir uns von der Lan­des­re­gie­rung eine kla­re Posi­tio­nie­rung für eine ver­stärk­te Auf­nah­me des The­mas in Aus‑, Fort- und Wei­ter­bil­dung von Erzieher*innen.

Sicht­bar­keit

Durch die Ope­ra­tio­nen und den Geschlechts­ein­trag, der bis vor weni­gen Jah­ren nur binär mög­lich war, wur­den inter­ge­schlecht­li­che Men­schen struk­tu­rell unsicht­bar gemacht. In einer streng binä­ren Gesell­schaft durf­te es Inter­ge­schlecht­lich­keit nicht geben. Des­halb sind wir sehr froh über die gesetz­li­chen Ände­run­gen wie dem OP-Ver­bot. Damit wur­den wich­ti­ge For­de­run­gen der inter­ge­schlecht­li­chen Selbst­hil­fe end­lich erfüllt. In der Kon­se­quenz möch­ten inter­ge­schlecht­li­che Men­schen end­lich sicht­bar wer­den! Wir for­dern, dass die Lan­des­re­gie­rung Maß­nah­men, wie die Kam­pa­gne „Ich bin Inter* — Sieht man doch“ wei­ter­hin för­dert, um die Sicht­bar­keit inter­ge­schlecht­li­cher Men­schen zu erhö­hen. Denn nur wenn inter­ge­schlecht­li­che Men­schen sicht­bar sind, kön­nen sie von ihren For­de­run­gen und Bedar­fen berich­ten. Das ist wich­tig, denn wie die Lan­des­re­gie­rung in ihrer Ant­wort auf die gro­ße Anfra­ge mehr­fach betont, genü­gen gesetz­li­che Ände­run­gen nicht. Es bracht einen tief­grei­fen­den gesell­schaft­li­chen Wan­del, der längst begon­nen hat, aber lan­ge noch nicht ange­schlos­sen ist. Die Dis­kri­mi­nie­rung von inter­ge­schlecht­li­chen Men­schen ist ein gesamt­ge­sell­schaft­li­ches Pro­blem, das nur mit dem Ver­ler­nen einer strikt zwei­ge­schlecht­li­chen Ord­nung gelöst wer­den kann.

 

Kon­takt und wei­ter­füh­ren­de Infor­ma­tio­nen

 

[1] Gro­ße Anfra­ge mit Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung, S. 7.

[2] Gro­ße Anfra­ge mit Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung, S. 2.

[3] Gro­ße Anfra­ge mit Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung, S. 2.

[4] Gro­ße Anfra­ge mit Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung, S. 9.

[5] Gro­ße Anfra­ge mit Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung, S. 1.

[6] Die S2K-Leit­li­nie „Vari­an­ten der Geschlechts­ent­wick­lung“ ist eine kon­sens­ba­sier­te Leit­li­nie, die von ver­schie­de­nen medi­zi­ni­schen Fach­ge­sell­schaf­ten und inter­ge­schlecht­li­chen Selbst­or­ga­ni­sa­tio­nen erar­bei­tet wur­de. Sie ent­hält Emp­feh­lun­gen für die adäqua­te medi­zi­nisch-psy­cho­lo­gi­sche Beglei­tung von inter­ge­schlecht­li­chen Men­schen, B. durch den Ver­weis auf die inter­ge­schlecht­li­che Selbst­hil­fe und Peer­be­ra­tung: https://www.aem-online.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/S2k_Geschlechtsentwicklung-Varianten_2016-08_01_1_.pdf

[7] Gro­ße Anfra­ge mit Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung, S. 6.

[8] Vgl. Gro­ße Anfra­ge mit Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung, S. 9.

[9]  Vgl. Gro­ße Anfra­ge mit Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung, S. 9.

[10] Gro­ße Anfra­ge mit Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung, S. 33f.

[11] Gro­ße Anfra­ge mit Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung, S. 9.

[12] Gro­ße Anfra­ge mit Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung, S. 11.

[13] Gro­ße Anfra­ge mit Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung, S. 11.

[14] Gro­ße Anfra­ge mit Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung, S. 1.

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