Große Anfrage zur „Dritten Option in Nieder­sachsen“

Im Januar 2021 stellte die Landtags­fraktion von Bündnis 90/Die Grünen eine Große Anfrage zur Umsetzung des Urteils des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richtes zur “Dritten Option” in Regierung, Minis­terien und Verwaltung Landes Nieder­sachsen.

Ziemlich genau ein Jahr später wurde die Antwort des Nieder­säch­si­schen Minis­te­riums für Soziales, Gesundheit und Gleich­stellung veröf­fent­licht. Die gesamte Anfrage mit den Antworten ist hier zu finden.

Am 24.2. wird zwischen ca. 15.30 und 16.30 Uhr die große Anfrage im Landtag disku­tiert, die komplette Tages­ordung ist hier zu finden. Die Plenar­tagung kann vor Ort oder im Live-Stream des Landtages verfolgt werden. Später steht eine Aufzeichnung der Debatte im Plenar TV zur Verfügung. Hier gibt es weitere Infor­ma­tionen zum Verfolgen der Debatte.

Die Landes­ko­or­di­nation Inter* im QNN und Inter­ge­schlecht­liche Menschen Landes­verband Nieder­sachsen e.V. (IMLVNDSeV) hat die Beant­wortung der Großen Anfrage im Folgenden nach selbst gewählten Kategorien zusam­men­ge­fasst und kommen­tiert:

Recht­liche und gesell­schaft­liche Anerkennung

Antwort der Landes­re­gierung (zusam­men­ge­fasst):

Die Landes­re­gierung wirkt aktiv darauf hin, dass bei allen Änderungen von Rechts- und Verwal­tungs­vor­schriften auch eine Prüfung auf Geschlech­ter­ge­rech­tigkeit vorge­nommen wird. Das schließt die Anerkennung von geschlecht­licher Vielfalt mit ein. Der Beant­wortung der einzelnen Fragen stellt für Landes­re­gierung voran: „Die Aufklä­rungs­arbeit – insbe­sondere auch zu den Unter­schieden der Begriff­lich­keiten trans* und inter* — ist zum jetzigen Zeitpunkt noch ein langer Prozess. Die Landes­re­gierung ist bestrebt, eine Sensi­bi­li­sierung für diese Themen voran­zu­bringen und die gesell­schaft­liche und politische Akzeptanz von mehr als zwei Geschlechtern auszu­bauen. Daher ist sie konti­nu­ierlich bestrebt, in allen maßgeb­lichen Bereichen die unter­schied­lichen Geschlech­ter­per­spek­tiven einzu­be­ziehen und damit der Lebens­wirk­lichkeit einer Vielzahl geschlecht­licher Identi­täten Rechnung zu tragen.“[1] Ferner wird verdeut­licht dass die Akzeptanz geschlecht­licher Vielfalt und das Durch­brechen binärer Vorstel­lungen von Geschlecht nicht nur durch recht­liche Vorschriften erfolgt kann, sondern ein inten­siver gesell­schaft­licher Prozess ist, den die Landes­re­gierung bestmöglich unter­stützen möchte.

Kommentar:

Wir begrüßen das Engagement der Landes­re­gierung zur Aufklä­rungs­arbeit und Sensi­bi­li­sierung. Die Landes­ko­or­di­nation Inter* im QNN und IMLVNDSeV freuen sich auf die weitere Zusam­men­arbeit.

Verwal­tungs­tech­nische Umsetzung der Dritten Option

Antwort der Landes­re­gierung (zusam­men­ge­fasst):

In einigen Bereichen (z.B. Pass- und Melde­recht) wurden durch recht­liche Anpas­sungen die Änderungen des Perso­nen­stands­rechts vorge­nommen. Die Umsetzung ist nicht abgeschlossen, sondern wird als konti­nu­ier­licher Prozess angesehen. Die Komple­xität der Verwal­tungs­struk­turen verlangt viel Geduld und auch die techni­schen Umset­zungen von IT-Systemen braucht Zeit: „Darüber hinaus ist der Bedarf an interner — wie auch an externer – Aufklä­rungs­arbeit im Kontext „Inter­ge­schlecht­lichkeit“ noch sehr hoch, sodass über den Abschluss der Umsetzung keine Prognose gegeben werden kann.“[2]

Kommentar:

Wir stimmen zu dass bei der Aufklä­rungs­arbeit im Kontext Inter­ge­schlecht­lichkeit noch viel Arbeit notwendig ist und stehen als Koope­ra­tions- und Ansprechpartner*innen für Schulungen, Workshops, etc. zur Verfügung.

Sprache

Antwort der Landes­re­gierung (zusam­men­ge­fasst):

„In allen Bereichen des öffent­lichen Dienstes ist einer Geschlech­ter­dis­kri­mi­nierung durch geschlech­ter­ge­rechte Sprache und Darstellung aktiv entge­gen­zu­wirken.“[3] In der schrift­lichen und mündlichen Kommu­ni­kation der Verwaltung werden zunehmend geschlechts­neu­trale Formu­lie­rungen verwendet um auch Menschen, die sich nicht dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen, anzusprechen. Die sprach­liche Inklusion jenseits der Binarität von männlich und weiblich ist jedoch noch nicht verankert, sondern „[f]ür die Landes­re­gierung gilt die Anwendung/Beachtung des Beschlusses des Landes­mi­nis­te­riums (heute Landes­re­gierung) über Grund­sätze für die sprach­liche Gleich­be­handlung von Frauen und Männern in der Rechts­sprache vom 09.07.1991 (Nds. MBl. S. 911). Die sprach­liche Inklusion weiterer Geschlechter jenseits der Binarität ist hier nicht verankert.“[4]

Kommentar:

Hier sehen wir dringenden Nachhol­bedarf und fordern die verbind­liche Veran­kerung einer geschlech­ter­ge­rechten Sprache, die alle Geschlechter berück­sichtigt, z.B. durch möglichst geschlechts­neu­trale Formu­lie­rungen und/oder die Verwendung des „Gender-Stern­chens“. Diese Regelung sollte im gesamten Verwal­tungs­handeln, sowie der Kommu­ni­kation nach innen und außen gelten.

Statis­tische Erhebungen

Antwort der Landes­re­gierung:

„Eine Aussage zu der Anzahl der Personen in Nieder­sachsen, welche sich biolo­gisch weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, lässt sich nicht eindeutig treffen. Die wissen­schaft­lichen Schät­zungen variieren zwischen 0,02 % und 1,7 % der Bevöl­kerung.“[5]

Kommentar:

Aufgrund der Vielzahl unter­schied­licher Varianten der geschlecht­lichen Entwicklung und des häufig unbekannten inter­ge­schlecht­lichen Poten­tials gibt es zur Frage wie viele inter­ge­schlecht­liche Menschen in Nieder­sachsen leben nur Schät­zungen. Da eine Änderung des Geschlechts­ein­trages aufgrund §45b PStG freiwillig ist, lässt auch das keine Rückschlüsse auf die Anzahl der in Nieder­sachsen lebenden Menschen mit inter­ge­schlecht­lichem Potential zu. Zur vertie­fenden Lektüre empfehlen wir „FAKTEN ZU INTER­GE­SCHLECHT­LICHKEIT – Mit welcher Identität und welchem Perso­nen­stands­eintrag leben inter­ge­schlecht­liche Menschen?“

IMLVNDSeV würde sich eine fundierte Erhebung von Seiten des statis­ti­schen Landes­amtes wünschen, gerne in Zusam­men­arbeit mit dem Queeren Netzwerk Nieder­sachsen (QNN) und IMLVNDSeV.

Aufklärung und Beratung

Antwort der Landes­re­gierung (zusam­men­ge­fasst):

Die Landes­re­gierung fördert die Beratungs- und Aufklä­rungs­arbeit zu Inter­ge­schlecht­lichkeit über die Landes­ko­or­di­nation Inter*, einem Koope­ra­ti­ons­projekt vom QNN und IMLVNDSeV. Die Landes­ko­or­di­nation Inter* bietet Workshops an, berät Organi­sa­tionen, koordi­niert Kampagnen und vernetzt relevante Akteure in Nieder­sachsen. IMLVNDSeV führt Beratungen durch und koordi­niert die inter­ge­schlecht­liche Selbst­hilfe in Nieder­sachsen. Auch der Verein für sexuelle Emanzi­pation in Braun­schweig bietet ehren­amt­liche Erstbe­ra­tungen an. Bundesweit ist die inter­ge­schlecht­liche Peerbe­ratung für inter­ge­schlecht­liche Menschen und deren Angehörige erreichbar. Die bundes­weite Beratungs­stelle zum Themen­be­reich Inter­ge­schlecht­lichkeit von Inter­ge­schlecht­liche Menschen e.V. (IMEV) berät inter­ge­schlecht­liche Personen und deren Angehörige, vermittelt Kontakte und ist für Presse­an­fragen sowie Beratungen für verschiedene Organi­sa­tionen und Insti­tu­tionen zuständig.

Kommentar:

In den letzten Monaten und Jahren hat das Interesse am Thema Inter­ge­schlecht­lichkeit enorm zugenommen. Das liegt an der erhöhten Sicht­barkeit des Themas im öffent­lichen Diskurs und an dem erhöhten Interesse an queeren Themen generell. Deshalb halten wir einen Ausbau der Förderung von Aufklä­rungs- und Beratungs­arbeit in Nieder­sachsen und bundesweit für dringend erfor­derlich. Zudem hat das neue Kinder- und Jugend­stär­kungs­gesetz ein flächen­de­ckendes Beratungs­an­gebot für Kinder und Jugend­liche sowie deren Eltern oder Sorge­be­rech­tigten gesetzlich festge­schrieben.  Mehr Infor­ma­tionen dazu sind hier zu finden: „Fakten zu Inter­ge­schlecht­lichkeit #6: Inklusiv und diffe­ren­ziert: Das Kinder- und Jugend­stär­kungs-gesetz und seine erwei­terte Geschlech­ter­per­spektive“.

Medizi­ni­sches Personal

Antwort der Landes­re­gierung:

Die S2k-Leitlinie „Varianten der Geschlechts­ent­wicklung“[6] besagt, dass unter Varianten der Geschlechts­ent­wicklung defini­ti­ons­gemäß Diagnosen zusam­men­ge­fasst werden, „bei denen die Geschlechts­chro­mo­somen, das Genitale oder die Gonaden inkon­gruent sind.“[7]

Kommentar:

Die S2K-Leitlinie empfiehlt u.a. den Verweis an die inter­ge­schlecht­liche Peerbe­ratung und Selbst­hilfe für alle Menschen mit Varianten der geschlecht­lichen Entwicklung und Eltern inter­ge­schlechtlich geborener Kinder. Leider ist diese Leitlinie noch immer zu wenig bekannt unter medizi­ni­schem Personal und darüber hinaus nicht verpflichtend. Wir fordern die Schaffung verbind­licher „Standards of Care“ unter Einbezug inter­ge­schlecht­licher Personen und deren Organi­sa­tionen. Die Aufklärung und Schulung von medizi­ni­schem Personal muss dringend erhöht werden. Insbe­sondere Hebammen und Geburtshelfer*innen sind eine wichtige Zielgruppe, denn sie sind die oft die ersten die die Inter­ge­schlecht­lichkeit eines Kindes feststellen. Daher haben sie einen großen Einfluss darauf, wie belastet der gemeinsame Start von Eltern und Kind ggf. ist. Deshalb begrüßen wir sehr, dass die Landes­re­gierung im Kontext der Akade­mi­sierung der Geburts­hilfe die Vermittlung von Grund­wissen zu Inter­ge­schlecht­lichkeit bei dieser Berufs­gruppe anstrebt.[8] Die Landes­ko­or­di­nation Inter* im QNN und IMLVNDSeV unter­stützen dabei mit ihrer Fachex­pertise. Weitere Infor­ma­tionen speziell für Hebammen und Geburtshelfer*innen sind in der Broschüre „Was ist es denn?“ von IMeV und IMLVNDSeV zu finden.

Schule

Antwort der Landes­re­gierung (zusam­men­ge­fasst):

Die Landes­re­gierung strebt an durch die Lehrkräf­te­fort­bildung das Wissen über Inter­ge­schlecht­lichkeit bei Lehrper­sonal zu erhöhen.[9]

Kommentar:

Das begrüßen wir ausdrücklich, denn die Schule ist ein wichtiger Sozia­li­sa­ti­onsort für Kinder und Jugend­liche, die dort oft einem großen Normie­rungs­druck ausge­setzt sind. Aufgrund des gesetz­lichen OP-Verbotes ist davon auszu­gehen, dass in den nächsten Jahren vermehrt offen inter­ge­schlechtlich lebende Kinder und Jugend­liche in die Schule kommen. Darauf müssen die Schulen vorbe­reitet sein! Die Landes­ko­or­di­nation Inter* und IMLVNDSeV stehen für Unter­stützung zur Verfügung. Das Bildungs- und Antidis­kri­mi­nie­rungs­projekt SCHLAU Nieder­sachsen veröf­fent­licht demnächst in Koope­ration mit der Landes­ko­or­di­nation Inter* und der Landes­fach­stelle Trans* im QNN die Broschüre „Geschlecht­liche Vielfalt im Klassen­zimmer“ und kann für Workshops angefragt werden. Wertvolle Infor­ma­tionen enthält auch die Publi­kation „FAKTEN ZU INTER­GE­SCHLECHT­LICHKEIT Schule „divers“ denken: Anregungen und Beispiele für Unter­richt und Schul­alltag“.

Antwort der Landes­re­gierung:

„Gleichwohl besteht bei der Kommission Sport der Kultus­mi­nis­ter­kon­ferenz eine Arbeits­gruppe „Drittes Geschlecht und Sport­un­ter­richt“, der die Bundes­länder Baden-Württemberg, Bayern, Nieder­sachsen und Sachsen-Anhalt angehören. Diese plant einen Fachtag, der dazu führen soll, mehr Expertise bei den Entschei­dungs­trä­ge­rinnen und Entschei­dungs­trägern der Bundes­länder zu erzeugen, um gegebe­nen­falls bei Bedarf sachge­rechte Einzel­fall­lö­sungen zu erzielen.“[10]

Kommentar:

Diese Initiative begrüßen wir ausdrücklich, denn besonders der Sport­un­ter­richt ist ein schwie­riger Ort für inter­ge­schlecht­liche Schüler*innen: Für Umkleide- und/oder Dusch­mög­lich­keiten, sowie die Bewertung – die im Sport­un­ter­richt in der Regel nach binären Mustern erfolgt – müssen Regelungen für indivi­duelle Einzel­lö­sungen gefunden werden.

Antwort der Landes­re­gierung:

„Vorschriften wie z. B. die Arbeits­stät­ten­ver­ordnung sind im Sinne der Rechts­si­cherheit anzupassen.“[11]

Kommentar:

Diese Forderung der Landes­re­gierung begrüßen wir ebenfalls ausdrücklich, denn die Arbeits­stät­ten­ver­ordnung gilt auch für Schulen und schreibt nur binär getrennte Sanitär­an­lagen vor. Ob Toiletten für alle angelegt oder ausge­schrieben werden, liegt im Ermessen der Schule, bzw. der Arbeits­stätte. Da insbe­sondere Sanitär­an­lagen Orte sind an denen inter­ge­schlecht­liche Menschen vermehrt Diskri­mi­nie­rungen erleben, wäre hier Rechts­si­cherheit durch Anpassung notwendig.

OP-Verbot

Antwort der Landes­re­gierung:

„Die Landes­re­gierung möchte zukünftige Übergriffe verhindern und begrüßt daher die aktuellen Entwick­lungen zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechts­ent­wicklung.“[12]

Kommentar:

Dieses Statement begrüßen wir ausdrücklich. Viele inter­ge­schlecht­liche Kinder wurden in den letzten Jahrzehnten medizi­nisch nicht notwen­digen Eingriffen unter­zogen. Diese medizi­ni­schen Maßnahmen waren schwere Menschen­rechts­ver­let­zungen, denn sie wider­sprechen dem Recht auf körper­liche Unver­sehrtheit, sowie dem Recht auf geschlecht­licher und sexueller Selbst­be­stimmung. Die wesent­liche aktuelle Entwicklung in diesem Kontext ist das im März 2021 verab­schiedete „Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechts­ent­wicklung“ (§1631 e BGB). Dieses Gesetz verbietet medizi­nische Maßnahmen, die nur dazu dienen, ein körperlich männliches oder weibliches Normge­schlecht herzu­stellen. Leider bietet das Gesetz noch einige Schutz­lücken durch Umgehungs­mög­lich­keiten (mehr Infos dazu sind in dieser Presse­mit­teilung von ImeV zu finden). Laut Koali­ti­ons­vertrag der Bundes­re­gierung sollen diese aber beseitigt werden. Der Schutz, den das gesetz­liche OP-Verbot nun bietet, kommt für die Betrof­fenen der Eingriffe aus den letzten Jahrzehnten zu spät.

Antwort der Landes­re­gierung:

„Eine finan­zielle Entschä­digung kann die Erleb­nisse und Eingriffe in die Selbst­be­stimmung der betrof­fenen Menschen nicht rückgängig machen. Eine Diskussion zur Forderung eines Entschä­di­gungs­fonds auf nieder­säch­si­scher Ebene findet zum aktuellen Zeitpunkt nicht statt.“[13]

Kommentar:

Diese Aussage der Landes­re­gierung bedauern wir sehr. Natürlich kann erfah­renes Leid nicht rückgängig gemacht werden. Doch wir fordern eine Entschä­digung aus anderen Gründen: Viele inter­ge­schlecht­lichen Menschen wurden durch die medizi­nisch nicht notwen­digen Eingriffe an Körper und Seele verletzt. Diese Verlet­zungen führten in vielen Fällen zu Schwer­be­hin­de­rungen und abgebro­chenen Erwerbs­leben mit massiven finan­zi­ellen Einbußen. Hier sehen wir auch eine staat­liche Verant­wortung für das erfahrene Leid, denn die Kritik von Selbst­or­ga­ni­sa­tionen an den medizi­nische Maßnahmen wurde in der Vergan­genheit ignoriert. Wir fordern, dass die medizi­ni­schen Maßnahmen und deren Folgen als Unrecht anerkannt und finan­ziell entschädigt werden. Wir begrüßen daher sehr den Koali­ti­ons­vertrag der Bundes­re­gierung, welcher die Einrichtung eines Entschä­di­gungs­fonds für inter* und trans *geschlecht­liche Personen, die aufgrund früherer Gesetz­gebung von Körper­ver­let­zungen betroffen waren. Wir wünschen uns eine klare Positio­nierung der Landes­re­gierung für dieses Vorhaben.

Personenstandsgesetz/Selbstbestimmungsgesetz

Antwort der Landes­re­gierung:

„Nach einem Urteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts im Oktober 2017 (- 1 BvR 2019/16 -) und einer darauf folgenden Änderung des Perso­nen­stands­ge­setzes wurde neben den Geschlechts­ka­te­gorien „männlich“ und „weiblich“ die sogenannte Dritte Option „divers“ beim Geschlechts­eintrag ermög­licht. Seither gibt es für Menschen, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen, die Möglichkeit, die Kategorie „divers“ in das Perso­nen­stands­re­gister eintragen zu lassen. Die Möglichkeit, keinen Geschlechts­eintrag vorzu­nehmen, bleibt davon unberührt. Auch der Vorname kann entspre­chend geändert werden. Voraus­setzung ist jedoch ein ärztliches Attest zur Feststellung einer „Variante der Geschlechts-entwicklung“ oder unter bestimmten Voraus­set­zungen eine Erklärung an Eides statt.“[14]

Kommentar:

Wir lehnen die Patho­lo­gi­sierung durch das ärztliche Attest ab und wünschen uns von der Landes­re­gierung die aktive Unter­stützung des im Koali­ti­ons­vertrag der Bundes­re­gierung verab­schie­deten Selbst­be­stim­mungs­ge­setzes. Wir hoffen, dass dieses Selbst­be­stim­mungs­recht seinem Namen gerecht wird! Das wird es nur wenn es zukünftig möglich sein wird, dass alle Menschen selbst­be­stimmt ihren Geschlechts­eintrag und ihren Vornamen ändern können.

 

Leider wurde einige Themen in der Großen Anfrage nicht behanldet, sind jedoch aus unserer Sicht sehr wichtig. Deshalb sollen sie an dieser Stelle mit aufge­nommen werden:

Alter

Aufgrund der Erfah­rungen mit medizi­ni­schen Einrich­tungen gibt es teilweise große Vorbe­halte gegenüber Pflege­ein­rich­tungen. Im schlimmsten Fall kann eine unsen­sible, uninfor­mierte Betreuung und Pflege zu Retrau­ma­ti­sie­rungen führen. Es braucht beim Pflege­per­sonal spezielle Expertise für eine sensible Betreuung und Pflege inter­ge­schlecht­licher Menschen. Wir wünschen uns Standards zur Aus‑, Fort- und Weiter­bildung bei Pflege­per­sonal und Anbieter*innen von Pflege­plätzen. Einzelne Projekte – wie „Queer im Alter – Öffnung der Alten­pfle­ge­ein­rich­tungen für die Zielgruppe LSBTIQ*“ haben bereits wichtige Ergeb­nisse erzielt und wertvolle Publi­ka­tionen erarbeitet. Diese müssen aber auch in den Einrich­tungen ankommen. Die Publi­kation „Fakten zu Inter­ge­schlecht­lichkeit #5: Wie können inter­ge­schlecht­liche Menschen in Pflege­ein­rich­tungen gut versorgt werden?“ bietet dazu wertvolle Infor­ma­tionen.

Gleich­be­handlung und Antidis­kri­mi­nierung

Das Nieder­säch­sische Gleich­be­rech­ti­gungs­gesetz (NGG) ist noch immer binär struk­tu­riert da es um die Gleich­be­rech­tigung von Männern und Frauen geht. Hier wird dringender Handlungs­bedarf gesehen denn inter­ge­schlecht­liche Menschen erfahren Diskri­mi­nierung aufgrund des Geschlechts und sind von einer Gleich­be­rech­tigung aufgrund ihres Geschlechtes weit entfernt. Auch wenn immer mehr (kommunale) Gleich­stel­lungs­be­auf­tragte auch die Belange und Bedarfe inter* und trans*geschlechtlicher Menschen bearbeiten, fehlt hier eine klare Regelung wer in den Kommunen für Fragen der geschlecht­lichen Vielfalt ansprechbar ist. Hier wünschen wir und Klarheit und klar definierte Ansprech­per­sonen.

Sport

Breiten- und Leistungs­sport sind größten­teils binär aufge­teilt in Männer- und Frauen­teams, sowie Bewer­tungs­systeme und Leistungs­ta­bellen die in Männer und Frauen unter­teilt sind. Hier wünschen wir uns mehr Initiative, um nicht-binäre Konzepte und Ideen für den Breiten- und Leistungs­sport zu entwi­ckeln und zu fördern.

Kita

Analog zur Schule werden aufgrund des gesetz­lichen OP-Verbotes auch Kitas in den folgenden Jahren vermehrt von inter­ge­schlecht­liche Kinder besucht werden. Hier wünschen wir uns von der Landes­re­gierung eine klare Positio­nierung für eine verstärkte Aufnahme des Themas in Aus‑, Fort- und Weiter­bildung von Erzieher*innen.

Sicht­barkeit

Durch die Opera­tionen und den Geschlechts­eintrag, der bis vor wenigen Jahren nur binär möglich war, wurden inter­ge­schlecht­liche Menschen struk­turell unsichtbar gemacht. In einer streng binären Gesell­schaft durfte es Inter­ge­schlecht­lichkeit nicht geben. Deshalb sind wir sehr froh über die gesetz­lichen Änderungen wie dem OP-Verbot. Damit wurden wichtige Forde­rungen der inter­ge­schlecht­lichen Selbst­hilfe endlich erfüllt. In der Konse­quenz möchten inter­ge­schlecht­liche Menschen endlich sichtbar werden! Wir fordern, dass die Landes­re­gierung Maßnahmen, wie die Kampagne „Ich bin Inter* — Sieht man doch“ weiterhin fördert, um die Sicht­barkeit inter­ge­schlecht­licher Menschen zu erhöhen. Denn nur wenn inter­ge­schlecht­liche Menschen sichtbar sind, können sie von ihren Forde­rungen und Bedarfen berichten. Das ist wichtig, denn wie die Landes­re­gierung in ihrer Antwort auf die große Anfrage mehrfach betont, genügen gesetz­liche Änderungen nicht. Es bracht einen tiefgrei­fenden gesell­schaft­lichen Wandel, der längst begonnen hat, aber lange noch nicht angeschlossen ist. Die Diskri­mi­nierung von inter­ge­schlecht­lichen Menschen ist ein gesamt­ge­sell­schaft­liches Problem, das nur mit dem Verlernen einer strikt zweige­schlecht­lichen Ordnung gelöst werden kann.

 

Kontakt und weiter­füh­rende Infor­ma­tionen

 

[1] Große Anfrage mit Antwort der Landes­re­gierung, S. 7.

[2] Große Anfrage mit Antwort der Landes­re­gierung, S. 2.

[3] Große Anfrage mit Antwort der Landes­re­gierung, S. 2.

[4] Große Anfrage mit Antwort der Landes­re­gierung, S. 9.

[5] Große Anfrage mit Antwort der Landes­re­gierung, S. 1.

[6] Die S2K-Leitlinie „Varianten der Geschlechts­ent­wicklung“ ist eine konsens­ba­sierte Leitlinie, die von verschie­denen medizi­ni­schen Fachge­sell­schaften und inter­ge­schlecht­lichen Selbst­or­ga­ni­sa­tionen erarbeitet wurde. Sie enthält Empfeh­lungen für die adäquate medizi­nisch-psycho­lo­gische Begleitung von inter­ge­schlecht­lichen Menschen, B. durch den Verweis auf die inter­ge­schlecht­liche Selbst­hilfe und Peerbe­ratung: https://www.aem-online.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/S2k_Geschlechtsentwicklung-Varianten_2016-08_01_1_.pdf

[7] Große Anfrage mit Antwort der Landes­re­gierung, S. 6.

[8] Vgl. Große Anfrage mit Antwort der Landes­re­gierung, S. 9.

[9]  Vgl. Große Anfrage mit Antwort der Landes­re­gierung, S. 9.

[10] Große Anfrage mit Antwort der Landes­re­gierung, S. 33f.

[11] Große Anfrage mit Antwort der Landes­re­gierung, S. 9.

[12] Große Anfrage mit Antwort der Landes­re­gierung, S. 11.

[13] Große Anfrage mit Antwort der Landes­re­gierung, S. 11.

[14] Große Anfrage mit Antwort der Landes­re­gierung, S. 1.

Skip to content